Albishorn MaxigraphFrei erfunden
Typische, klassische, geradezu ikonenhafte Uhren, die es so aber niemals gab, sind die Spezialität der neuen kleinen Schweizer Uhrenmarke Albishorn.
Die Geschichte des Uhrwerkherstellers Sellita reicht zurück bis in die 1950er Jahre. Damals gründete Pierre Grandjean ein sogenanntes Remontage-Atelier, das nach dem Prinzip der verlängerten Werkbank verschiedene Standardkaliber der großen Uhrwerkproduzenten aus zugelieferten Einzelteilen montierte und zum Teil nach Kundenwunsch dekorierte. Als um die Jahrtausendwende der größte Werkeproduzent – ETA, ein Unternehmen der Swatch Group – ankündigte, den Verkauf sogenannter «Teilekits» einzustellen und komplette Uhrwerke nur noch ausgewählten Kunden zur Verfügung zu stellen, ging die Angst um in der aus über 300 Marken zusammengesetzten Schweizer Uhrenindustrie.
2003 übernahm Miguel Garcia das Unternehmen von seinem ExChef und Mentor Pierre Grandjean und beschloss, Sellita in die Unabhängigkeit von externen Zulieferern zu führen. Zwanzig Jahre nach diesem folgenschweren Entschluss hat Sellita faktisch die Grundversorgung der kompletten europäischen Uhrenindustrie mit mechanischen Uhrwerken übernommen und den drohenden Notstand für die Branche abgewendet.
Schätzungsweise anderthalb Millionen mechanische Uhrwerke verlassen jährlich den Sellita-Campus auf halbem Weg zwischen den Uhrenzentren La Chaux-de-Fonds und Le Locle. Das Fertigungsspektrum reicht von Platinen, Brücken, Rädern, Trieben und Hebeln über die eigene Hemmung samt Spirale bis zu eigenen Mikrokugellagern. Zugekaufte oder sogar neu gegründete Spezialbetriebe für Galvanoplastik und Dekoration sowie Präzisionsdreh- und -frästeile entlasten die auf über 16.000 Quadratmeter angewachsenen Produktionsflächen in Le Crêt-duLocle, wo nach wie vor die Montage der inzwischen elf Kaliberfamilien großen Raum einnimmt. Das ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn ausnahmslos alle Uhrwerke werden bei Sellita von Hand montiert, reguliert und geprüft.
Zum Gespräch in der Sellita-Zentrale in Le Crêt-du-Locle trafen wir uns Anfang Januar 2025 mit Firmeninhaber Miguel Garcia, Innovations- und Marketingchef Sébastien Chaulmontet und dem General Manager der Uhrenmarke Eberhard & Co., Mario Peserico, stellvertretend für die vielen Kunden der Uhrwerkefabrik.
Mario Peserico, GM Eberhard & Co.
Mario Peserico: Wenn ich vorab etwas sagen dürfte: Sellita ist überlebenswichtig für kleinere und speziell für mittelgroße Uhrenmarken wie uns! Ohne Sellita wäre es für uns sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, Uhren in der gewünschten Menge und in unserem Preissegment herzustellen. Sellita ist der Garant der Schweizer Uhrenindustrie!
Miguel Garcia:Die Schweizer Uhrenlandschaft lebt schon seit jeher von den vielen kleineren Marken. Der Preisbereich zwischen 1000 und 2000 Franken bildet das Einstiegssegment für «Swiss made»-Uhren mit mechanischen Uhrwerken. Und hier engagieren sich Hunderte von Marken, die sich keine eigenen Uhrwerke leisten könnten. So eine Werkkonstruktion ist mit riesigen Investitionen verbunden, die sich auf die Kosten der Uhren auswirken. Viele Uhrenfreunde können sich «Manufaktur» gar nicht leisten.
Als die Swatch Group um die Jahrtausendwende ankündigte, sich aus dem Geschäft mit frei verfügbaren Uhrwerken zurückzuziehen, war rasches Handeln angesagt. Das Geschäftsfeld war schließlich enorm groß, ebenso die Investitionen und damit das Risiko. Langes Überlegen war gar nicht möglich und die Zeit drängte, daher habe ich mich entschlossen, etwas zu tun. Wenn ich gewusst hätte, was da auf mich zukommt, hätte ich es wohl nicht getan.
Eberhard war ja kein Sellita-Kunde der ersten Stunde. Wann und wie sind Sie auf Sellita gestoßen, Monsieur Peserico?
Mario Peserico: Eberhard & Co. ist seit 2005/2006 Sellita-Kunde. Damals hat ETA die Lieferung von Rohwerken oder Teilekits zurückgefahren und wollte nur noch komplette Werke verkaufen. Beim Peseux-Kaliber (ein Handaufzugswerk, Red.), der Basis für unser Achttagewerk, nehmen wir ja zahlreiche Änderungen vor. Da waren komplett montierte und einregulierte Uhrwerke für uns nicht interessant. Gleichzeitig hat man aber auch angekündigt, die Liefermengen von Fertigwerken einzufrieren, was uns jede Wachstumsperspektive genommen hat.
Sébastien Chaulmontet: Ein großes Problem war auch, dass die Swatch Group schon kurz nach der Jahrtausendwende keine neuen Kunden mehr aufnehmen wollte. Viele gute Ideen wären einfach nicht umgesetzt worden, wenn nicht Sellita – damals noch mit einem sehr überschaubaren Programm von wenigen Basiskalibern – in die Bresche gesprungen wäre.
Miguel Garcia: Was ich nie verstanden habe, war die Haltung, «nicht mehr jede Klitsche bedienen» zu wollen. Wir, das heißt Sellita, haben schon immer auch Kleinstmengen von Uhrwerken geliefert, und warum auch nicht? Die Werke waren ja da, fertig produziert, standardisiert. Sellita hat sich schon immer als Dienstleister verstanden, da hat man eine andere Sicht auf den Kunden als ein Hersteller. Ich würde sagen, die Nähe zum Kunden war schon immer unsere größte Stärke.
Sie haben mit der Übernahme des «Versorgungsauftrags» von der ETA auch ein Stück weit die Verantwortung für die Schweizer Uhrenbranche übernommen …
Miguel Garcia: Die Swatch Group wollte diese große Verantwortung nach so vielen Jahren einfach nicht mehr tragen, scheint mir. Sie «ermutigten» alle Hersteller, ihre eigenen Uhrwerke zu entwickeln und selbst herzustellen. Dadurch würden die Preise der Uhren steigen, aber die Marken der Swatch Group hätten dank ihrer industriellen Skalierungsvorteile das Preisniveau halten können. Das hätte wahrscheinlich das Ende vieler kleiner Uhrenmarken bedeutet.
Mario Peserico:Wir können froh sein, dass Monsieur Garcia diese Gefahr – und auch die wirtschaftliche Chance – erkannt hat und die Weichen für den Umbau von Sellita vom Remonteur zum Hersteller rechtzeitig stellte. Andernfalls sähe es heute in der Schweizer Uhrenwelt trübe aus.
Miguel Garcia: In diesem Punkt bin ich sehr «oldschool», dabei führe ich nur das Konzept des Firmengründers Pierre Grandjean fort. In der Schweizer Uhrenindustrie hatten in der Vergangenheit stets die Patrons das Sagen, und dieses System hat sich bewährt. Ein Patron kennt seine Mitarbeiter, seine Kunden, seine Produkte und sein Unternehmen. Er weiß um seine Stärken, kann Risiken einschätzen und Entscheidungen treffen.
Es gab noch nie einen Fall, in dem ein Kunde sagte, er habe dieses oder jenes Modell nicht machen können, weil ihm Sellita keine Werke geliefert hat. Bei uns wird jeder bedient. Und wenn ein Kunde sagt, er muss – aus welchen Gründen auch immer – seine Stückzahlen erhöhen, dann soll das an uns nicht scheitern. Wir gehen mit!
Noch etwas anderes ist sehr «oldschool» bei Sellita: Trotz der vielen Hightech-Werkzeugmaschinen, der Material-Labore und Elektronenmikroskope werden hier alle Uhrwerke von Hand montiert.
Miguel Garcia: Das ist korrekt. Montage ist bei uns Menschensache.
In unserer schönen heilen Welt der Uhrenmanufakturen schwingt in dem Wort «industriell» ja eine gewisse Geringschätzigkeit mit …
Miguel Garcia: Die industrielle Fertigung von Uhrwerken ist ein hochkomplexes Unternehmen, bei dem es um Geschwindigkeit, Präzision und Qualität geht. Bei uns muss alles vom Start weg passen, funktionieren und halten. Weil wir viele verschiedene Kunden haben, haben wir niemals nur ein Problem, sondern immer gleich ganz viele.
Wenn eine Manufakturmarke ein Problem erkennt, weil sie 15 % Rückläufer unter Garantie erhält, dann kann sie den Fehler stillschweigend beheben und zur Tagesordnung zurückkehren. Wenn wir eine Rücklaufquote von 15 % hätten, dann könnten wir einpacken. Sofort.
Sébastien Chaulmontet, Innovations- und Marketingleiter Sellita
Die bedeutungsvollsten Entwicklungen, die Sellita vorangebracht haben, betreffen die technische Qualität unserer Produkte und den verbesserten Austausch mit unseren Kunden.
Sébastien Chaulmontet: Durch den engen Kontakt zu unseren Kunden bekommen wir quasi in Echtzeit ein Feedback zu unseren Produkten. Und durch die Vielzahl der Abnehmer, die ja alle irgendwie ein bisschen andere Schwerpunkte setzen, andere Anforderungen stellen als ihre Mitbewerber, werden unsere Uhrwerke bei jedem Kunden einem eigenen Testprogramm unterzogen. Das heißt, am Ende durchlaufen unsere Werke viele verschiedene umfang- und abwechslungsreiche Testprogramme. Da bleibt kein Makel, keine Schwäche unentdeckt. Wir müssen nur entsprechend rasch reagieren.
Werden heute generell andere Anforderungen an die Uhrwerke gestellt als früher?
Miguel Garcia: Die Ansprüche der Uhrenkäufer sind gestiegen, ganz klar, und die Uhrenmarken versuchen sich gegenseitig mit immer neuen Garantien zu übertreffen. Nun sind es aber am Ende wir, die diese Versprechen halten müssen. Fünf Jahre, acht Jahre Garantie – das erfordert eine ungeheure Präzision in der Fertigung und eine sehr, sehr gute Qualität. Und das alles bei sehr moderaten Preisen, muss ich sagen.
Sébastien Chaulmontet: Die Prioritäten in der Uhrenindustrie haben sich über die Jahre verschoben. Früher galt die Ganggenauigkeit allein als das Maß aller Dinge. Dann wurden eher Uhrwerke gefordert, die robust wie Traktoren sein mussten, um Zusatzmodule antreiben zu können. Später rückten die Verlängerung der Gangreserve und der schnelle Aufzug in den Fokus. Heutzutage hingegen sollen Uhrwerke alles können: Dreizeiger-Automaten, Chronographen, Kalender oder sogar winzige Damenuhren – das ist technisch natürlich nicht immer umsetzbar. Bei der Entwicklung ist es daher wesentlich, die Erwartungen klar zu definieren und die Prioritäten richtig zu setzen. Wir müssen unseren Kunden sehr genau zuhören, um herauszufinden, wo ihre Schwerpunkte liegen: eine lange Gangreserve oder ein hohes Drehmoment, insbesondere bei Chronographen? Oder liegt der Fokus hauptsächlich auf stabilen Gangwerten in allen Lagen, wie sie bei Sportuhren wichtig sind? Soll eine Damenuhr beispielsweise über einen schnellen Aufzug verfügen, sodass sie mit wenigen Kronen- oder Armbewegungen einsatzbereit ist – ideal für Trägerinnen, welche die Uhr nur gelegentlich aus der Schublade holen?
Miguel Garcia: Wir haben zwei Labore, ein Labor für Materialprüfungen, in dem wir auch Schmierstoffe prüfen können, und ein zweites, das sich ausschließlich dem Testen und der Weiterentwicklung unserer Uhrwerke widmet. Außerdem unterhalten manche Kunden wie gesagt eigene Labore, deren Ergebnisse man uns bisweilen unter die Nase reibt. Wir haben also einen riesigen Quellenschatz, aus dem wir Informationen schöpfen und unsere Produkte ständig verbessern und weiterentwickeln.
Wie groß ist das Unternehmen Sellita heute?
Miguel Garcia: Wir sind ca. 500 Mitarbeiter hier, 800 sind es in der gesamten Gruppe. Sellita besitzt eine eigene RohwerkFabrik in Altenberg bei Glashütte (Gurofa) sowie in der Schweiz ein eigenes Unternehmen für Galvanoplastik und Dekoration (Technicor) und eine Feinmechanik-Dreherei (Helios Precision).
Lassen Sie uns noch kurz über das erfolgreiche Geschäftsfeld AMT sprechen.
Miguel Garcia: Sellita besitzt darüber hinaus einen auf hochwertige Uhrwerke spezialisierten Betrieb, die Manufacture AMT, die im Jahr 2018 gegründet wurde und ihren Sitz ebenfalls in La Chaux-de-Fonds hat. Sie fungiert als technologischer Arm der Sellita-Gruppe und beherrscht dabei intern alle wesentlichen Schritte der Konzeption, Fertigung und Montage von hochwertigen mechanischen Uhrwerken. Manufacture AMT bietet sowohl eine Auswahl an hochwertigen Standardwerken als auch maßgeschneiderte Entwicklungen an, die bis hin zur Kreation eines komplett neuen Uhrwerks reichen, das exklusiv für eine bestimmte Marke entwickelt und hergestellt wird. Dank ihrer Zugehörigkeit zur Sellita-Gruppe hat sie Zugang zu all unseren eigenen Spezialbetrieben. Wir hatten 2023 das Glück, in der unmittelbaren Nachbarschaft zu unserem Hauptsitz ein großes Gebäude kaufen zu können. So haben wir heute hier in Le Crêt-du-Locle einen richtigen Firmencampus mit sehr kurzen Wegen.
Mario Peserico: Mit Manufacture AMT haben wir erstmals die Möglichkeit, spezifische Funktionen entwickeln und umsetzen zu lassen. Das war vorher ganz schön aufwendig, denn da mussten wir für die Konstruktion, für die Produktion und für die Montage noch andere Fremdfirmen hinzuziehen. Das kommt jetzt alles aus einer Hand.
Miguel Garcia: Wir haben in den letzten 22 Jahren sehr viel über Uhrwerke gelernt, auch wenn wir in erster Linie brave Dreizeiger-Kaliber und Chronographen produzierten. Diese Erfahrung kommt uns zugute, wenn es darum geht, «out of the box» zu denken. Die vom Kunden gewünschten Funktionen, Komplikationen oder Anzeigen basieren ja auch meistens auf unseren Standardwerken. Manufacture AMT kann sogar komplett eigenständige SerienUhrwerke entwickeln, mit oder ohne Komplikationen.
Messieurs Garcia, Chaulmontet und Peserico, vielen Dank für das interessante Gespräch!
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