Sellita Watch Co. SA

Unabhängigkeitserklärung

Der erste Eindruck ist entscheidend, sagt man. Miguel Garcia scheint auch dieser Meinung zu sein: Das kantige Gebäude der Uhrwerkefabrik Sellita ist großflächig verglast und bis auf den Firmenschriftzug absolut schnörkellos modern gestaltet. Rasen-, Kies- und Asphaltflächen rund um den Komplex sind getrimmt, sauber und gefegt. «Bei der Herstellung von Uhrwerken ist Sauberkeit das oberste Gebot», sagt der Herr über 400 Angestellte am Standort La Chaux-de-Fonds. Für sie ist Sauberkeit am Arbeitsplatz eine Selbstverständlichkeit, doch auch Lieferanten und Besucher der Fabrik sollen sich darüber im Klaren sein, dass Uhrentechnik ein hochpräzises Metier ist.
Sellita Gebäude
Sellita-Hauptgebäude in Le Crêt-du-Locle

Das Thema Sauberkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die Besichtigung der noch recht neuen Fabrik, deren Grundstein vor 15 Jahren gelegt wurde. Füße abtreten reicht oft nicht – da müssen schon auch Überschuhe und weiße Arbeitskittel her. Anfassen mit bloßen Händen ist nirgends erlaubt, schon gar nicht bei der Montage der Uhrwerke! Aber auch bei der maschinellen Teilefertigung arbeiten die Drehbänke, Fräsen und Bohrwerke am liebsten ohne händische Intervention – nicht zuletzt wegen der hohen Stückzahlen, die nur durch eng getaktete und reibungslose Prozesse zu erreichen sind. Auch wenn Miguel Garcia und seine Mitarbeiter seit Jahrzehnten in der Branche tätig sind, so ist die hunderttausendfache Herstellung kleiner und kleinster Komponenten aus Messing und Stahl noch immer jeden Tag eine neue Herausforderung.

Anfänge als Remontagebetrieb

Die Geschichte der Firma Sellita begann 1950, als Pierre Grandjean in der Schweizer Uhrenhochburg La Chaux-de-Fonds ein sogenanntes Remontage-Atelier eröffnete. Die Komponenten für mechanische Uhrwerke wurden seinerzeit größtenteils von einem Konsortium verschiedener Spezialbetriebe hergestellt, darunter die Rohwerkefabrik Ebauches SA und die auf die Herstellung von Hemmungsbauteilen spezialisierte F.A.R. (Fabriques d’Assortiments Reunies), die später den Grundstock der Swatch Group (1983 gegründet als SMH) bildeten. Weil der Schweizer Staat die Uhrenbranche in den 1930er Jahren vor dem Bankrott bewahrt hatte, mussten solche «systemrelevanten» Firmen der gesamten Industrie zuarbeiten und unter anderem Preise und Zahlungsmodalitäten von der Wettbewerbskommission (Schweizer Kartellbehörde) absegnen lassen.

Die Nachfrage nach Schweizer Uhren entwickelte sich in den Wirtschaftswunderjahren prächtig, und so gab es für Uhrwerk-Montagebetriebe jede Menge Arbeit. Sellita entwickelte sich rasch zu einem gefragten Remonteur für mechanische Uhrwerke im unteren bis mittleren Preisbereich mit entsprechend hohen Kapazitäten. Pierre Grandjean spezialisierte sich auf Uhrwerke nach ETA-Baumuster – Handaufzug- und Automatikkaliber sowie das «Valjoux»-Chronographenwerk.

Die Montage der Uhrwerke, die aus bis zu 200 Einzelteilen bestehen, wurde permanent rationalisiert und automatisiert. Modernste Mess- und Produktionsmethoden wurden eingeführt, und Sellita-Betriebsleiter Kullmann erfand gegen Ende der 1960er Jahre das Laserschweißverfahren zur Befestigung der Spirale an der Unruh (Kullmann machte sich danach mit der Firma Laser Automation selbstständig, die noch heute für die Uhrenbranche arbeitet).

Das Geschäftsmodell von Remontagebetrieben wie Sellita (von denen es seinerzeit in der Schweiz noch eine Reihe anderer gab) bestand in der Konfektion der Standardkaliber nach Kundenwünschen mit individuellen Ausstattungs- und Qualitätsmerkmalen sowie Zierschliffen, Vergoldungen und Gravuren bis hin zu personalisierten Aufzugsrotoren und Dekorationen.

Als die Patentrechte für die ETA Kaliber 2824, 2892 und 7750 (Chronograph) dreißig Jahre nach ihrer Konstruktion ausliefen, begann Sellita, einzelne Komponenten selbst anzufertigen bzw. nachzufertigen. Und als die Swatch Group, zu der die Firma ETA gehört, um die Jahrtausendwende ankündigte, in Zukunft keine Einzelteile mehr, sondern nur noch komplette und veredelte Uhrwerke zu verkaufen, da wusste Grandjean, dass seine Firma ein neues Geschäftsmodell brauchte. Und er wusste auch, wen er mit dieser Aufgabe betrauen würde.

Sellita Uhrwerkmontage
Die teilautomatisierten Arbeitsplätze sind in Reihen angeordnet.

Die Krise als Chance

Im Jahr 2003 überschrieb Grandjean die Firma an Miguel Garcia, der sich vom Büroangestellten zum Prokuristen und Betriebsleiter hochgearbeitet hatte und das volle Vertrauen des alten Herrn genoss.

Garcia machte Nägel mit Köpfen. Da Sellita in Zukunft sämtliche Komponenten eines Uhrwerks selbst würde herstellen müssen, plante er einen Neubau mit 5000 Quadratmetern Nutzfläche auf der grünen Wiese vor den Toren der Stadt La Chaux-de-Fonds, um dort sämtliche Gestellteile der beiden ETA Automatikkaliber 2824 und 2892 anzufertigen.

Der Neubau war 2004 bezugsfertig und stieß schon bald an seine Kapazitätsgrenzen. Als klar wurde, dass auch die Versorgung mit Unruhspiralen und Hemmungsbauteilen über kurz oder lang ein Problem darstellen würde, investierte Garcia in die Wiederbelebung dieser hoch spezialisierten Produktionszweige, die alle Schweizer Uhrenhersteller seit Jahrzehnten der Firmengruppe Nivarox-F.A.R. (inzwischen Teil der Swatch Group) überlassen hatten. 2012 wurde ein zweites Gebäude in Betrieb genommen, wodurch sich die Produktionsfläche auf 11.000 Quadratmeter erhöhte. Das reichte ein paar Jahre aus, doch inzwischen sind die Flächen schon wieder zu 90 % ausgelastet, und so wird derzeit auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein weiteres Gebäude mit weiteren 5000 Quadratmetern hochgezogen. Dort sollen ab Ende des Jahres die großen, vollautomatischen Produktionsmaschinen ihre Metallspäne und Schmierwasser versprühen, damit das Hauptgebäude vollkommen sauber bleiben kann. Die beiden Gebäudekomplexe werden in luftiger Höhe über der Autostraße durch eine gläserne Brücke miteinander verbunden sein.

Vormontage der Chronographen-Zählermobile
Diese Maschinen montieren die Mobile der Chronographenzähler vor – vollautomatisch.

Eigene Werkzeugmaschinen

Sellita produziert inzwischen nicht nur sämtliche Gestellteile – Platinen, Brücken und Kloben – für die drei großen Kaliberfamilien selbst, sondern unterhält neben der eigenen Spiralen-Fertigung auch eine weitgehend automatisierte Produktion von Unruhen und Ankern. Mit dem Know-how aus der selbst entwickelten Laserschweißtechnik und der Expertise aus jahrzehntelanger Großserienmontage werden in einer eigenen Abteilung komplette Hemmungssysteme zusammengestellt, montiert, ausgewuchtet, klassifiziert und zur Montage vorbereitet. Stahlteile wie Räder und Triebe werden von externen Spezialfirmen bezogen, doch nach und nach holt man sich verschiedene Schlüsseltechnologien ins eigene Haus – wie zum Beispiel die Herstellung von Rotor-Kugellagern.

Die zum Teil sehr komplexen Maschinen, die selbstständig Unruhen feinwuchten, Triebe und Rückstellherzen von Chronographenzählern montieren und flachrichten, Anker mit Rubinpaletten bestücken, Datumsscheiben bedrucken oder Platinen überprüfen, werden im eigenen Hause hergestellt. Die Abteilung Sellita Engineering entwickelt maßgeschneiderte Systeme, die prinzipiell auch an Fremdfirmen verkauft werden könnten.

Gleiches gilt für die eine halbe Autostunde entfernt angesiedelte Firma Technicor, ein hundertprozentiges Sellita-Tochterunternehmen zur Dekoration und Finissierung von Uhrwerkbauteilen mit der größten vollautomatischen Galvanik-Anlage der Schweizer Uhrenbranche. Und im Erzgebirge, ganz in der Nähe von Glashütte, unterhält Sellita mit der Firma Gurofa («Glashütter Uhren-Rohwerkefabrik») ein externes Fertigungszentrum für standardisierte Uhrwerkbestandteile, das im Grunde auch für andere Uhrenfirmen tätig sein könnte – wenn man nicht alle Kapazitäten für den eigenen Bedarf ausschöpfen würde.

Sellita Kaliber SW300
Sellita Kaliber SW300

Hochwertige Technik, preiswerte Werke

Der größte Teil der 410 Mitarbeiter in La Chaux-de-Fonds ist mit der teilautomatisierten Montage der Uhrwerke beschäftigt. Eigene Abteilungen kümmern sich exklusiv um die größten Kunden, die zum Teil – wie zum Beispiel IWC – besondere technische Anforderungen stellen und für welche die Grundkaliber in zahlreichen Details modifiziert werden. Andere Marken legen wiederum besonderen Wert auf die Ganggenauigkeit der bezogenen Uhrwerke, weshalb Sellita auch in engem Kontakt mit dem Schweizer Prüfinstitut COSC steht, der einzigen Autorität, die einem Uhrwerk den Titel «Chronometer» verleihen darf.

Sellita konzentriert sich nach wie vor auf erschwingliche Werke mit Hand- oder Automatikaufzug mit kleinen Komplikationen wie Datum, Wochentag, GMT-Anzeige oder zweiter Zeitzone sowie Chronographen mit verschiedenen Anzeigekombinationen. Die Baumuster basieren, wie eingangs erwähnt, auf den ausgereiften Konstruktionen ETA 2671 (Sellita SW100), ETA 2824 (SW200) und ETA 2892 (SW300) sowie auf dem Valjoux-Kaliber in verschiedenen Varianten mit (SW500) und ohne Chronograph (SW600).

Das komplett neu und ohne ETA-Gleichteile konstruierte Kaliber SW1000 (Ø 20 mm) begründete vor wenigen Monaten eine zukünftige Produktpalette moderner Automatikwerke. Sie werden an ihren vierstelligen Kaliberbezeichnungen erkennbar sein, sollen jedoch nicht viel teurer werden als die – auch weiterhin angebotenen – Standards und Derivate.

Sellita hat sich unter dem Druck eines angekündigten Lieferstopps innerhalb von nur 15 Jahren zum zweitgrößten europäischen Hersteller mechanischer Uhrwerke entwickelt, mit deutlichem Abstand zum Dritten, aber auch zum Marktführer ETA. Bis 2020 ist dieser durch einen Schiedsspruch der Wettbewerbskommission verpflichtet, bestehende Lieferverträge zu erfüllen. Wenn sich daraufhin die Versorgungssituation für die vielen kleinen Schweizer Uhrenmarken ohne eigene Technik verändert, dürfte endgültig die Stunde von Sellita schlagen.

Entdecken Sie in unsere Reihe «Hinter die Kulissen» die Arbeit in Manufakturen und Ateliers:

Breguet: Auf den Spuren des Meisters

Carl F. Bucherer: Junge Marke – lange Tradition

Manufakturbesuch bei Lehmann Präzisionsuhren

Oris: So tickt es in Hölstein

Patek Philippe – die Manufaktur in Genf

Werkstattbesuch bei Patek Philippe Deutschland

Tutima: Blick in die Glashütter Ateliers

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