Rund um die Unruh

Unruhige Zeiten

Sie geben sich offenherzig und zeigen alles: Mechanische Uhren, die durch einen Zifferblattausschnitt die Unruh sichtbar machen, sind nach wie vor sehr beliebt. Eine Aufmerksamkeit, die das anspruchsvolle Teil wahrlich verdient.
Das Aufbringen von Schliffen und Polituren erfolgt bei Moritz Grossmann von Hand.
Das Aufbringen von Schliffen und Polituren erfolgt bei Moritz Grossmann von Hand.

Das System und seine Bewegung gelten als Inbegriff der mechanischen Uhr: Das Schwingen der Unruh steht beim Blick auf ein Uhrwerk im Mittelpunkt. Ihr emsiges Hin und Her fasziniert durch seine Schnelligkeit und Präzision, gibt den Takt für die Zeit vor und ist der klassische Gangregler für tragbare Uhren.

Er basiert auf einer Entdeckung von Christiaan Huygens im Jahr 1675, als der holländische Astronom, Mathematiker und Physiker herausfand, dass die Schwingung einer Unruhspiralfeder dem gleichen physikalischen Gesetz gehorcht wie das Pendel. Dieses Gesetz besagt, dass ein frei hängendes Pendel für eine Schwingung von der einen zur anderen Seite immer exakt die gleiche Zeit benötigt.

Huygens gelang es, das Prinzip auf ein Schwingsystem zu übersetzen, das aus einer Ringunruh mit flacher Spiralfeder besteht. Damit konstruierte er einen Mechanismus, der bis heute das Maß aller Dinge ist. In dessen Mittelpunkt steht der sogenannte Unruhreif, ein mit Speichen beziehungsweise in der Fachsprache «Schenkeln» versehenes Schwungrad. Seine Achse ist mit einer extern befestigten Spiralfeder verbunden.

Wird das Schwungrad in Bewegung gesetzt, zieht es die Feder bis zu ihrer maximalen Spannung auf, um dann von ihr in die entgegengesetzte Richtung zurückgetrieben zu werden. Dies erfolgt wieder bis zu einem Umkehrpunkt, an dem sich die Richtung des Schwungrades erneut umkehrt.

Arbeitsteilung aus Tradition

Kleines Teil ganz groß: Unruhreif aus den Ateliers von Moritz Grossmann mit Unruhspirale und eingedrehten Masseschrauben. Gut zu erkennen sind seitliche Bohrungen, aus denen Material abgenommen wird, um Unwuchten zu beseitigen.
Kleines Teil ganz groß: Unruhreif aus den Ateliers von Moritz Grossmann mit Unruhspirale und eingedrehten Masseschrauben. Gut zu erkennen sind seitliche Bohrungen, aus denen Material abgenommen wird, um Unwuchten zu beseitigen.

Dieses System aus Unruhreif und Unruhspirale wird im Uhrwerk durch Unruhwelle, Anker und Ankerrad ergänzt – gemeinsam bilden sie die Hemmungsbaugruppe. Deren Herstellung lag in der arbeitsteiligen Tradition der Uhrenindustrie seit jeher in den Händen spezialisierter Experten. Firmen, die im Verlauf der «Quarzkrise» fusionierten und schließlich Teil der heutigen Swatch Group wurden. Heute ist das daraus entstandene Swatch Group-Tochterunternehmen Nivarox-FAR der wichtigste Lieferant der Uhrenbranche für Unruhreif, Spirale und Welle, die meistens komplett montiert geliefert werden.

Doch einzelne Firmen trotzen der Übermacht und stellen eigene Komponenten her. So lässt sich auch in Deutschland die Herstellung des Unruhreifs hautnah miterleben – vor allem in Glashütte, wo zum Beispiel Glashütte Original und Nomos Glashütte die diffizile Fertigung beherrschen. Auch bei Moritz Grossmann kann man diesen Prozess beobachten und den Uhrmachern und Spezialisten bei der Fertigung des Unruhreifs über die Schulter schauen.

Ihre Arbeit beginnt mit dem Rohling des Unruhreifs. Dieser kann zum Beispiel durch Stanzen in Kombination mit Fräsen hergestellt werden. Danach folgt das Auswuchten Dadurch werden sogenannte Schwerpunktfehler festgestellt und behoben. Diese entstehen, wenn der Unruhreif an einer Stelle mehr Masse als an anderen aufweist. Dies würde im Uhrwerk zu Lagefehlern führen – also einer Abweichung bei der Zeitmessung abhängig von der Lage der Uhr.

Es geht um Zehntausendstel

: Zum Auswuchten des Unruhreifs wird jener auf dieses Werkzeug aufgelegt. So machen sich Schwerpunktfehler bemerkbar, und Material kann abgetragen werden.
Zum Auswuchten des Unruhreifs wird jener auf dieses Werkzeug aufgelegt. So machen sich Schwerpunktfehler bemerkbar, und Material kann abgetragen werden.

Das Auswuchten beginnt an der Unruhwaage. Der Unruhreif wird aufgelegt und zum  Drehen gebracht. Ein eventuell vorhandener Schwerpunkt wird sichtbar, wenn sich der Reif mit einem bestimmten Punkt nach unten einpendelt. An dieser Stelle schafft man durch das Entfernen winziger Materialspäne einen Ausgleich und dabei geht es um zehntausendstel Gramm. Immerhin wiegt ein kleiner Unruhreif mit einem Durchmesser von 10 Millimetern gerade einmal 0,06 Gramm, ein größere mit einem Durchmesser von 14,2 Millimetern kann auf 0,15 Gramm kommen. Das Auswuchten von Hand kann bis zu eine Stunde dauern.

In der Haute Horlogerie folgt dann das Verschönern der Komponente, was ebenfalls von Hand vorgenommen wird. Der Unruhreif erhält Zierschliffe, wobei allerdings wieder Material abgetragen wird. Selbst wenn das minimal ist – das kann immerhin so viel sein, dass wieder eine Unwucht auftritt. Also muss ein weiteres Mal ausgewuchtet werden, bevor das Teil weiterverarbeitet wird.

Vermählung von Unruh und Spirale

Bei Moritz Grossmann kommt nun die Unruhspirale ins Spiel, die als Rohspirale angeliefert wird. Diese wird am inneren Befestigungspunkt an die Spiralrolle angesteckt – mit viel Sorgfalt und Vorsicht, um die Spirale nicht unnötig zu verformen. Danach wird die Spirale mitsamt der Spiralrolle auf die Unruh gesteckt.

Es folgt das Prüfen von Rundlauf und Flachlauf der Spirale: Dazu wird sie auf eine Testunruh gesetzt, und Fehler werden mithilfe einer Spiralzange von Hand ausgeglichen. Als Nächstes wird die Länge der Spirale bestimmt – hier spricht der Fachmann von «abzählen ». Man versetzt die Unruh mithilfe einer speziellen Vorrichtung in Schwingungen und zählt diese in einem festgelegten Zeitintervall. Auf diese Weise wird die Frequenz ermittelt, und anschließend wird die Spirale so lange verkürzt, bis der Takt stimmt.

Zuletzt geht es um das äußere Ende der Spirale, deren letztes Dreiviertel des äußeren Umgangs auf einem kleinen «Amboss» liegend aufgebogen wird. Dabei folgt man einer Schablone mit exakter Form der berechneten Endkurve und arbeitet mit zum Teil individuell gefertigten Spezialzangen. Moritz Grossmann kombiniert dabei die klassische Breguet-Endkurve mit einer Form nach Berechnungen des Glashütters Gustav Gerstenberger.

So vollendet, folgen in der Montageabteilung von Moritz Grossmann die Reglage der Unruh, das letzte dynamische Auswuchten und Einstellen, der Einbau in das Werk sowie die Endmontage der Uhrwerke und das Einschalen ins Gehäuse. Zuallererst wird die Unruh mitsamt Spirale in das Uhrwerk eingebaut und am äußeren Ansteckpunkt verstiftet. Nun wird die Frequenz geprüft, um Unruhspirale und Unruh aufeinander abzustimmen. Das erfolgt bei Moritz Grossmann durch vier Masseschrauben, die in den Reif eingeschraubt werden und später bei der Feinregulierung das Trägheitsmoment verändern können. Es gibt unterschiedliche Gewichtsklassen, die den Unruhreif ganz nach Bedarf leichter oder schwerer machen. Somit werden Unruhspirale und -reif individuell aufeinander abgestimmt.

Zur Prüfung des Rundlaufs wird die Unruh mitsamt Spirale in dieser Vorrichtung gedreht und mit kritischem Auge begutachtet, ggf. wird dann von Hand nachjustiert.
Zur Prüfung des Rundlaufs wird die Unruh mitsamt Spirale in dieser Vorrichtung gedreht und mit kritischem Auge begutachtet, ggf. wird dann von Hand nachjustiert.

Durchdachte Paarung

Andere Firmen, die größere Stückzahlen fertigen, greifen dabei auf ein anderes System zurück: Hier werden Unruhreifen und -spiralen durch das Klassifizieren unabhängig voneinander vermessen und 20 verschiedenen Klassen zugeordnet. Später werden, ihrer Gruppe entsprechend, Unruhreifen und -spiralen zusammengeführt: Eine schwere Unruh erhält eine kürzere Spirale, damit sie ebenso schnell schwingen kann wie ein leichterer Unruhreif, der mit einer längeren Spirale kombiniert wird.

Passt die Abstimmung, wird die Spirale am äußeren Ansteckpunkt endgültig befestigt – auf dem «Ansteckbänkchen », einer Vorrichtung, die bei Moritz Grossmann angefertigt wurde. Ein weiteres Mal muss die Spirale flach und zentrisch eingestellt werden, sodass sie bei ihren Bewegungen in einer Ebene bleibt und die Umgänge den gleichen Abstand zueinander haben, was man bei einem Blick von oben und von der Seite überprüft. Auch über ein erneutes Biegen der Endkurve wird die Feineinstellung der Spirale beeinflusst. Als vorläufig letzter Schritt wird das äußere Ende der Spirale mit einem konischen Stift am Spiralklötzchen fixiert.

Nun kann die Unruh mitsamt Spirale in das Werk eingebaut werden, muss aber immer wieder Kontrollen über sich ergehen lassen. Werden im Hinblick auf die Präzision Abweichungen festgestellt, kann es auch im weiteren Verlauf der Montage erforderlich sein, die Unruh nochmals auszubauen und Material vom Reif abzutragen. Insgesamt summieren sich alle Arbeitsschritte, die bei Moritz Grossmann an der Unruh durchgeführt werden, am Ende auf mehr als einen Arbeitstag. Jede Menge Aufmerksamkeit, die angesichts der wichtigen Rolle der Unruh im Uhrwerk durchaus angebracht ist.

Text: Iris Wimmer-Olbort

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