Ressence Collection X

Jenseits der Zeiger

März 2021 Ressence ist ein Kunstwort aus «Renaissance» und «Essence». Seit zehn Jahren demonstriert die belgische Uhrenmarke, wie man sich bei der Wiederbelebung einer alten Technik auf das Essenzielle konzentriert.
Benoît Mintiens, Gründer und Mastermind von Ressence

Benoît Mintiens ist Industriedesigner und kam erst spät zur Armbanduhr. Ihm schwebte eine Zeitanzeige vor, die sich nicht allein durch die Stellung der Zeiger manifestiert, sondern durch die kontinuierliche Veränderung des Uhren-Gesichts das Verstreichen der Zeit erfassbar macht, ähnlich wie eine Sanduhr dies tut.
Seine von jeglichem Uhrmacherwissen unbelastete Vorstellung von der Zeitanzeige erwies sich als Segen, wie er dem Autor beim ersten Kennenlernen auf der BASELWORLD 2011 freimütig gestand. «Wenn ich gewusst hätte, wie kompliziert meine Ideen umzusetzen sind, hätte ich wahrscheinlich die Finger davon gelassen», schmunzelt er noch heute. Doch zeitgenössisches Produktdesign zeichnet sich dadurch aus, dass es den Benutzer zum Maßstab macht. Allein seine Perspektive zählt, und so entsteht fast zwangsläufig eine Diskrepanz zwischen der – möglichst einfachen – Bedienungsoberfläche und der – möglichst vielseitigen – Technik dahinter. Der Designer wird zum Mittelsmann zwischen Benutzer und Konstrukteur.

Ressence Type 1 Slim X

Intuitive Zeiterfassung

Seit Jahrhunderten sind die Menschen daran gewöhnt, die Uhrzeit quasi aus dem Augenwinkel anhand der Stellung von Stunden- und Minutenzeiger zu erfassen. Je deutlicher die beiden Zeiger voneinander zu unterscheiden sind, desto einfacher ist die Ablesung.
Die Abkehr von einer gemeinsamen Zeigerachse für Stunden und Minuten schafft eine räumliche Distanz zwischen den unterschiedlichen Zeitdimensionen. In den meisten Fällen gilt das Augenmerk des Uhrenträgers dem Minutenzeiger, könnte man argumentieren. Für die Stunden entwickelt man als aktiver Mensch ein gewisses Gespür, aber bei den Minuten kann man sich schon leichter einmal vertun. In der Zeitanzeige nach Ressence steht der Minutenzeiger im Mittelpunkt. Und das ist durchaus wörtlich zu nehmen.
Die Zeitanzeige basiert auf einem sich kontinuierlich drehenden Zifferblatt mit drei oder vier «Satelliten», d. h. kleinen runden Skalen mit kurzen Zeigern, die sich je nach Funktion – Stundenanzeige, Kleine Sekunde, Gangreserve – in ihrer eigenen Geschwindigkeit bewegen. Dabei rotieren diese Satelliten permanent mit dem Zifferblatt, das einen aufgemalten Minutenzeiger trägt, und machen eine komplette Umdrehung in einer Stunde. Der Clou – und die technische Schwierigkeit – dabei ist, dass die Skalen der Satelliten immer senkrecht zur Blickachse stehen. So identifiziert das Auge problemlos die «12» am Zenit der Stundenskala und kann die Stellung des kurzen Stundenzeigers richtig einsortieren.

Ressence Type 5X

Komplex konvex

Einen besonderen Reiz beziehen die Uhren von Ressence aus ihrer allseits abgerundeten, sanft gewölbten Form ohne Glashaltereif. Die Wölbung der Oberfläche hat einen Radius von 12,5 Zentimetern, was ungefähr dem Halbmesser einer Bowlingkugel entspricht. Auch das Zifferblatt-Ensemble mit seinen in sich drehenden Satelliten ist konvex geformt und schmiegt sich von innen förmlich an das Glas. Besonders eindrucksvoll ist dieser Effekt bei den Modellen Type 3 und Type 5, bei denen der schmale Spalt zwischen Glasinnenseite und Zifferblattoberfläche mit Silikonöl gefüllt und so die Lichtbrechung außer Kraft gesetzt ist: Die Indexe, Zeiger und Ziffern wirken aus jedem Betrachtungswinkel wie außen aufgeklebt.
Technischer Kern der Ressence-Uhren ist das ROCS genannte Zifferblattmodul, das exklusiv für Ressence in der Schweiz gefertigt wird – wo übrigens auch die komplette Produktion der Uhren stattfindet. Als Antrieb des dreidimensionalen «Ressence Orbital Convex System» nutzt Ressence das bärenstarke ETA Kaliber 2824-2, das bei den beiden ölgefüllten Varianten in einer eigenen, trockenen Gehäusehälfte untergebracht ist. Es überträgt seine Bewegung berührungslos über zweimal sechs Mikro-Magnete an das komplett im Öl schwimmende ROCS-Modul. Anstelle einer Kleinen Sekunde haben diese Module einen sogenannten «Runner» (90 oder 360 Sekunden Umlaufzeit), dessen Unterseite wie ein Schaufelrad ausgeformt ist. Bei starken Erschütterungen wirkt der Runner wie eine hydraulische Bremse auf das ROCS-Modul und verhindert, dass der magnetische Kontakt zum Antrieb «überschnappt».
Die Ölfüllung beträgt bei den Modellen Type 3 und Type 5 jeweils 37,5 ml – bei einer Befüllungstemperatur von + 5 °C. Hier hat das Öl seine geringste Ausdehnung. Wenn es wärmer wird, schaffen sieben deformierbare Faltenbälge zusätzlichen Platz im ROCS, sodass der Innendruck nicht steigt. Eine Bimetallfeder übersetzt die gemessene Öltemperatur an die Thermometeranzeige, die gleichzeitig Aufschluss gibt über die Ausdehnung bzw. Kontraktion der Faltenbälge.

Alle vier Modelle der Ressence Collection X: Type 1 Squared X, Type 3X, Type 5X und Type 1 Slim X (von oben).

Ressence Collection X

Die Abbildungen auf diesen Seiten zeigen die 2020 anlässlich des 10-jährigen Firmenjubiläums aufgelegten Sondermodelle, die über das ganze Jahr verteilt in limitierten Auflagen von jeweils 40 Exemplaren lanciert wurden. Die Sanduhr, Benoît Mintiens’ Ideal der Zeitanzeige, findet sich als Symbol für die Ziffer 10 auf allen vier Modellen der «Collection X».
Den Auftakt bildete die Type 1 Slim X, die mit ihren jeweils zur Hälfte geschliffenen und mattierten Oberflächen pünktlich um 12 bzw. 24 Uhr das Zifferblatt sauber in zwei Hälften unterteilt. Dann folgte eine spezielle Ausführung der wasserdichten Type 5X, die Auto-Fan und -Sammler Benoît Mintiens mit einem Augenzwinkern dem Projekt Lancia Delta Futurista widmete, der Neuinterpretation des berühmten sechsfachen Rallye-Weltmeisterautos. In Zusammenarbeit mit Eugenio Amos, dem Erbauer des Autos, wurden an der Drehlünette der ölgefüllten Uhr typische Zeitelemente aus dem Motorsport angebracht: 15 Minuten zum Aufwärmen, S für Start, D für Drive, R für Race und 10 Minuten zum Abkühlen des Turboladers.
Die ebenfalls ölgefüllte Type 3X zum Jubiläumsjahr wurde in Kooperation mit dem in New York arbeitenden Designer Stefan Sagmeister entwickelt und reflektiert dessen Projekt «Now is better». Der Datumsring um das Hauptzifferblatt ist mit blauen und orangefarbenen Linien bedruckt, wobei ein Polfilter im Glas nur jeweils eine Farbe sichtbar werden lässt. Um Mitternacht schaltet der Polfilter um, und aus blauen Strichen werden orangefarbene. Einer der 140 Striche hat jedoch eine inverse Farbgebung und tanzt aus der Reihe, zum Beispiel als einziger blauer neben 139 orangefarbenen Strichen. Der so geschaffene Index umrundet das Zifferblatt in 30 Tagen und visualisiert das Verstreichen eines Monats.
Zum Abschluss des zehnten Jubiläumsjahres präsentierte Ressence im Januar 2021 das Modell Type 1 Squared X, bei dem der Satellit der Kleinen Sekunde um eine 24-Stunden-Anzeige aus 48 bunten Keramikperlen mit 0,9 mm Durchmesser ergänzt wurde. Im Laufe eines Tages folgen gelbe, graue, blaue und schwarze Perlenreihen aufeinander und prägen mit ihrer Farbe den Schlitzkreis der Anzeige. Jede Tageszeit hat ihren eigenen Farbmix: Morgens ab 6 Uhr dominiert zunächst strahlendes Gelb, am Abend ab 18 Uhr übernimmt das sanfte Blau.

Die mechanische Uhr hat eine Zukunft

Die gezeigten limitierten Auflagen sind teilweise schon vergriffen, doch die «normalen» Kollektionsmodelle von Ressence weisen dieselben charakteristischen Merkmale auf und sind nicht minder interessant. Einen völlig neuen Weg beschreitet der Industriedesigner Benoît Mintiens mit der Type 2, deren patentierte «E-Crown» zwischen dem nach wie vor mechanischen Uhrwerk und dem ROCS-Anzeigemodul vermittelt – «nicht um die Mechanik zu korrigieren und zu bevormunden», wie der Designer sagt, «sondern um ein insgesamt funktionaleres und komfortableres Produkt zu schaffen, das seinem Benutzer alles abnimmt». Die Idee hinter der E-Crown, ihre Funktionsweise und ihre Anwendungsmöglichkeiten sind uns demnächst eine eigene Betrachtung wert. Schließlich ist die Type 2 nichts weniger als Benoît Mintiens’ Prototyp der Armbanduhr der Zukunft.

Ressence ROCS 1: Das Uhrwerk (ganz rechts) ist nur ein Motor. Die ganze Technik steckt im Getriebe für die umlaufenden Scheibenanzeigen.
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