Revolutionärer neuer Chronograph

Ganz neuer Ansatz

Das Genfer Spezialitätenatelier Agenhor hat ein neues Chronographenwerk entwickelt, das sich von allen gängigen Baumustern einst und heute grundlegend unterscheidet.
Chronographen
Singer Track One, ausgestattet mit dem AgenGraphe

Die jüngere Geschichte des Chronographen ist nicht gerade reich an Innovationen. Seit seiner Erfindung um das Jahr 1861 durch Henri Ferréol Piguet für die Firma Nicole & Capt und der kreativen Explosion der Konstruktionen in den unmittelbaren Folgejahren hat sich auf dem Gebiet des mechanischen Chronographen nichts Fundamentales mehr verändert.

Das Haus Fabergé war der erste Kunde für den AgenGraphe. Das Modell Visionnaire verfügt über Zeiger für die Zeitanzeige und Scheiben für den Chronographen (bis 24 Stunden).

Alle in den letzten 150 Jahren konstruierten Chronographen nutzen dasselbe Rückstellungssystem mit Herzscheibe und Hammer, eine von drei Kupplungsvarianten (horizontal, vertikal und per Schwingtrieb) und eine von zwei Betätigungsmechanismen (mit Schaltrad oder Kulisse). Auch die grundlegende Architektur und das Zusammenwirken der verschiedenen Komponenten blieben seit über einem Jahrhundert im Wesentlichen unverändert. Die letzte Innovation betraf die Einführung des automatischen Aufzugs im Jahr 1969, doch hat dieser letztlich nichts mit dem Chronographenmechanismus zu tun.

Geht das nicht auch anders?

Der Einzige, der sich diese Frage in den letzten Jahren gestellt hat, war offenbar Jean-Marc Wiederrecht, der in Genf ein Spezialitätenatelier namens Agenhor unterhält. Um sein revolutionär neues Chronographenkaliber AGH-6361 (Übername «AgenGraphe») zu verstehen und richtig einzuschätzen, muss man sich darüber im Klaren sein, dass es zwei Arten von Chronographen gibt – einfache Zeit-Unterbrecher und hoch komplexe, geradezu kunstvolle Zeit-Darsteller, die mit Fug und Recht als Große Komplikationen angesehen werden können – und auch entsprechend kostspielig sind.

Wiederrechts Konstruktion will den Kurzzeitmesser nicht vereinfachen, ganz im Gegenteil! 477 Bauteile und 67 Lagersteine zeugen von dem konstruktiven – und schöpferischen – Aufwand der völlig neuartigen Kadratur, in der zahlreiche neue Lösungsansätze verwirklicht sind.

Agenhor-Gründer Jean-Marc Wiederrecht

Der Ausgangspunkt der Überlegungen war eine möglichst gute Ablesbarkeit des gestoppten Zeitintervalls. Die Chronographenzeiger verteilen sich daher nicht auf verschiedene kleine Skalen, die über das ganze Zifferblatt verstreut sind, sondern entspringen alle der Zifferblattmitte und bestreichen konzentrische Skalenkreise. Dadurch wird die ermittelte Zeit intuitiv ablesbar – wie die Uhrzeit.

Neben dem DB28 Maxichrono von De Bethune ist der AgenGraphe der einzige mechanische Chronograph mit Anzeige von Stoppsekunden, -minuten und -stunden aus der Mitte. Dabei geht der AgenGraphe noch ein paar Schritte weiter als der Maxichrono.

Zunächst einmal sind die Anzeigen von Stoppminute und Stoppstunde springend ausgeführt, um jede Fehlablesung der Skala auszuschließen. Allein wegen dieses mechanischen Kraftakts zählt der AgenGraphe zu den kompliziertesten Chronographenkalibern in der Geschichte der Uhrmacherei.

Des Weiteren wurde die Uhrzeit ganz an den Zifferblattrand verbannt, sodass nur drei Chronographenzeiger das Zifferblattzentrum bestreichen (statt deren fünf wie beim DB28). Nur der Rotonde Central Chronograph von Cartier verfügte über eine vergleichbare Zeitanzeige, die jedoch nicht in letzter Konsequenz umgesetzt wurde.

Das war bei dem konventionellen Aufbau des Cartier-Kalibers auch nicht möglich, und so mussten die Konstrukteure von Agenhor die Architektur ihres neuen Chronographen völlig neu erfinden.

Die halbmondförmige Kadratur der Chronographensteuerung mit Hebeln und Schaltrad lässt sich komplett abnehmen. Im Bild unten ist sie an Ort und Stelle montiert (im Bildhintergrund, davor die Federhausbrücke ).
Das Kaliber AGH-6361 hat einen Durchmesser von 34,4 mm und ist 5,13 mm hoch (ohne Zeiger und Anzeigescheiben). Im Bild die Version, die Fabergé verwendet.

Das Herz des Chronographen

Das Uhrwerk hat in seiner Mitte ein großes Loch, denn alle Räder und Hebel, die Hemmung sowie die beiden Federhäuser schmiegen sich an den Rand der ringförmigen Platine. Dieses «Loch» beherbergt das Herz des Chronographen.

Der Chronograph besteht aus drei schichtförmig übereinandergelegten Kadraturen: Die oberste ist für den Sekundenzähler, die mittlere für die Minuten und die unterste für die Stunden.

Die Funktionsweise der drei Zähler ist einzigartig. Zunächst einmal verfügt der Mechanismus über zwei Steuernocken, die Stunden- und Minutenzähler springen lassen. Das System erinnert stark an die Schaltung einer retrograden (rückspringenden) Anzeige. Die Nocken heben nämlich während 60 Sekunden oder 60 Minuten eine Wippe kontinuierlich an und lassen sie schlagartig abfallen. Dabei rücken die Zeiger von Minuten- und Stundenzähler (24 oder 60 Stunden) um eine Zähleinheit weiter.

Dieselben Wippen (plus eine dritte) dienen außerdem zur Nullstellung der Zeiger. Es kommen also weder Rückstellherzen noch -hämmer zum Einsatz: Wenn die Räder der Zählerantriebe aus dem Kraftfluss ausgekoppelt sind, genügt ein leichter Druck auf die Wippen, um Sekunden- und Minutenzeiger zurückzustellen. Die dabei ausgeübte Kraft ist weitaus geringer als beim Fallen eines klassischen Rückstellhammers und der Verschleiß an Reibfläche und Lagerung entsprechend kleiner.

Der Stundenzeiger wird indes nicht von Wippe und Nocken, sondern von einer Spiralfeder zwischen Trieb und Platine zurückgestellt. Wenn der Kraftfluss unterbrochen wird, führt diese Feder Rad und Zeiger wieder an den Startpunkt der Skala zurück. Da der Stundenzähler keine ganze Umdrehung ausführen kann, kann der AgenGraphe maximal 23 Stunden, 59 Minuten und 59 Sekunden (bzw. 59 Stunden, 59 Minuten und 59 Sekunden, je nach Ausführung) messen und anzeigen, dann hält der Stundenzähler automatisch an, während sich Minuten- und Sekundenzeiger weiterdrehen.

Neuartige Kupplung

Der AgenGraphe verfügt auch über eine neuartige horizontale Chronographenkupplung – ohne Verzahnung!

Der Kraftschluss zwischen Uhrwerk und Chronograph erfolgt lediglich über die Friktionskräfte der in langen Versuchsreihen ausgetüftelten Reibpaarung der beiden Räder.

Durch den Verzicht auf eine Verzahnung vollführt der Sekundenzeiger beim Einkuppeln keinen «Einschaltsprung». Dieser Pluspunkt war bislang der vertikalen Kupplung vorbehalten, bei welcher der Einschaltvorgang des Chronographen jedoch im Verborgenen geschieht und nicht durch den Glasboden beobachtet werden kann wie beim AgenGraphe.

Einen kleinen Wermutstropfen gibt es allerdings: Da bei einer starken Erschütterung die Friktionsverbindung durchrutschen kann, sitzt hinter dem glatten Kupplungsrad ein zweites, verzahntes zur Sicherheit. Dieses kann, wenn die Verzahnungen ungünstig stehen, im Einzelfall dann doch zu einem Zeigersprung beim Zuschalten des Chronographen führen. Allerdings ist das Risiko aufgrund der geringen Zähnezahl kleiner als bei einer konventionellen horizontalen Kupplung.

Das Herz des AgenGraphe hat drei Etagen für Sekunden-, Minuten- und Stundenzähler. Die Nockenscheiben spannen 60 Sekunden bzw. 60 Minuten den Zählerhebel vor und lassen ihn dann schlagartig fallen.

Der AgenGraphe verfügt noch über eine ganze Reihe weiterer technischer Detaillösungen, die der Erwähnung wert sind – zum Beispiel der automatische Aufzug, der wegen der konsequent aus der Mitte geführten Zeiger auf der Zifferblattseite des Uhrwerks angeordnet werden konnte, wodurch das Chronographenwerk durch den Glasboden in all seiner Pracht bewundert werden kann. Als großer Zentralrotor mit Nabenlagerung hat er auch entscheidend mehr Kraft als ein Mikrorotor und ein geringeres Losbrechmoment als ein nabenloser Peripherrotor.

Das einzige konventionelle Chronographenbauteil des AgenGraphe ist somit am Ende das Schaltrad zur Steuerung der Funktionen, das heute als Symbol hochwertiger Chronographen betrachtet wird.

Fazit

Der AgenGraphe ist eine echte Bereicherung der Uhrmacherei und deshalb so erfrischend, weil High-End-Chronographen bislang stets traditionelle Baumuster und klassische Veredelungen zelebrierten, dabei technische Innovationen aber meistens vermissen ließen.

Agenhor-Besitzer Jean-Marc Wiederrecht beschreitet mit dem AgenGraphe definitiv eigene Wege. Sogar die gespreizte Anordnung der Drücker bei der «2» und der «10» ist einmalig für eine Armbanduhr und erinnert eher an Stoppuhren.

Nach so vielen Innovationen fallen dem Chronographenliebhaber auf Anhieb keine Wünsche ein. Oder doch: Ein konzentrischer Schleppzeiger wäre die absolute Krönung dieses Werkes. Dieser dürfte dann sogar ausnahmsweise ganz klassisch ausfallen.

Text: Sébastien Chaulmontet

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